von Manfred Nowak
Hannes Tretter war seit einem halben Jahrhundert mein engster beruflicher Weggefährte und Freund. In den 1970er- und 1980er-Jahren arbeiteten wir beide als Universitätsassistenten am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien bei Felix Ermacora, der schon früh unsere Begeisterung für Menschenrechte weckte. 1992 gründeten wir gemeinsam mit Felix Ermacora das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM), dessen wissenschaftliche Leitung wir beide bis 2019 ausübten. Wir wurden so sehr als Paar wahrgenommen, dass uns die beiden Geschäftsführerinnen des BIM, Patricia Hladschik und Fiona Steinert, aus Anlass unseres Ausscheidens sogar eine gemeinsame Festschrift mit dem Titel „Menschenrechten Gestalt und Wirksamkeit verleihen“ widmeten. Gemeinsam mit den beiden gründeten wir dann das Wiener Forum für Demokratie und Menschenrechte mit dem Ziel, Teile der Aufgaben des BIM einschließlich des Zentrums polis (Politik Lernen in der Schule) weiterzuführen. Die Übersiedlung war nicht allzu aufwändig, da beide wissenschaftlichen Institute im Schottenstift beheimatet sind. Vom Fenster seines Arbeitszimmers konnte Hannes nicht nur auf die Fenster des Boltzmann Instituts, sondern auch auf die Fenster seiner Wohnung im Stift hinüberblicken. Das Wiener Forum war seine neue Wirkstätte bis zu seinem allzu frühen Tod. Mit tatkräftiger Unterstützung durch Christoph Liebscher und die Straniak Stiftung begann er viele neue Projekte und begeisterte ein junges Team von Mitarbeiter:innen für die Menschenrechte. Er leitete das Forum gemeinsam mit Marion Wisinger, denn ich hatte meinen beruflichen Mittelpunkt schon 2016 nach Venedig verlegt, wo er mich immer wieder mit seinem Segelboot „Solitär“ besuchen kam.
Sein Tod fühlt sich für mich an als hätte ich einen Zwillingsbruder verloren. Er war der ruhende Pol in unserer Beziehung, der trotz vieler Expertenfunktionen im Menschenrechtsbeirat des Innenministeriums oder in der Europäischen Grundrechteagentur die klassische wissenschaftliche Karriere vom Assistenten zum Professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät absolvierte und bis zu seiner Pensionierung im Dienststand der Universität Wien blieb. Ich hingegen war der unstete Geist, der immer wieder an andere Universitäten ins Ausland wechselte, Funktionen für die Vereinten Nationen übernahm, als Richter in Sarajevo wirkte oder als Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig tätig bin. Hannes pflegte unsere Arbeitsteilung am BIM als die des „Innen- und Außenministers“ zu bezeichnen. Während ich das BIM auf unzähligen Konferenzen im Ausland und 2000 als Gründungsmitglied der Association of Human Rights Institutes (AHRI) vertrat, sorgte Hannes für die finanzielle Sicherheit des Instituts und baute dieses schnell zum größten Menschenrechtsinstitut Österreichs mit bis zu 50 Mitarbeiter:innen aus. Eine seiner nachhaltigsten Errungenschaft war die Twinning-Akkreditierung, mit der er immer wieder neue Twinning-Projekte in Osteuropa oder der Türkei an Land zog und für die Finanzierung des BIM durch die EU sorgte. Das BIM war viel mehr als eine erfolgreiche wissenschaftliche Forschungseinrichtung. Es wurde zur Heimat für zahlreiche junge und langsam älter werdende Menschen, die hier in freundschaftlicher Verbundenheit unter der umsichtigen Leitung und Anleitung von Hannes herausragende wissenschaftliche Leistungen erbrachten und als gefragte Expert:innen in Überwachungseinrichtungen des Europarats oder der EU dienten. Während ich für die Organisierung von Ski-Wochenenden mit dem Team zuständig war, sorgte Hannes dafür, dass alle BIMler:innen zu seinem zweiten Wohnsitz in Murter eingeladen wurden und auf seiner „Solitär“ segeln lernen konnten. Später durften wir an seiner Straniak-Akademie an der Adria-Küste in Montenegro und Albanien mitwirken. Das adriatische Meer, von Italien über das ehemalige Jugoslawien bis nach Griechenland, mit seinen vielen Inseln, die er immer wieder mit seinem Segelboot bereiste, war seine zweite Heimat und große Leidenschaft. Dort werden seine engsten Familienangehörigen auch auf seinen ausdrücklichen Wunsch seine Asche verstreuen.
Hannes war nicht nur ein großartiger Wissenschafter und begeisterter Menschenrechtsverteidiger. Er war ein wunderbarer Mensch, ein treuer Freund, bescheiden und anspruchsvoll zugleich, und für viele für uns ein großes Vorbild. Er hinterlässt neben seiner Familie eine große Anzahl von Freunden und Freundinnen, die um ihn trauern. In den letzten Jahren seines Lebens machte er sich zunehmende Sorgen um den Zerfall einer regelbasierten internationalen Ordnung sowie um das Schicksal unseres Planeten und zukünftiger Generationen. Eines seiner letzten großen Projekte war die Erforschung des Plastikmülls im Mittelmeer, dessen Ergebnisse wir gemeinsam in Venedig vorstellen wollten. Kurz vor seinem Tod hat der „Gute Rat“ der Millionenerbin Marlene Engelhorn das Wiener Forum für Demokratie und Menschenrechte für eine nicht unbeträchtliche finanzielle Zuwendung ausgesucht, was eine große Anerkennung für Hannes‘ innovative Projekte im Rahmen des Forums darstellt. Mit diesem Geld hat er trotz seiner schweren Krankheit mit großem Elan sein letztes Projekt „Notfall Demokratie“ konzipiert und begonnen. Wir werden gemeinsam dieses Projekt im Rahmen des Wiener Forums in memoriam Hannes Tretter weiterführen.
Lieber Hannes, wir vermissen Dich!