Internationaler Tag der Menschenrechte

Nicht nur die Pandemie stellt uns vor große politische Herausforderungen. Es ist keine Zeit zu verlieren.

Die Welt befindet sich in einer veritablen Krise. Schon 1985 warnte Jürgen Habermas in seiner Schrift „Die neue Unübersichtlichkeit“ vor dem „Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen“. Die Warnungen betrafen – neben Wettrüsten und Kernwaffen, Ausbeutung von Entwicklungsländern, Arbeitslosigkeit, Verarmung und sozialer Ungleichheit – Umwelt- und Technologieprobleme. Achselzuckend akzeptierte Ratlosigkeit der Politik und mangelndes „Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst“ stehe anstelle „zukunftsgerichteter Orientierungsversuche“ und Wiedergewinnung „utopischer Energien“.

In eine ähnliche Richtung argumentiert 2020 Philipp Blom im Essay „Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“, in dem er ein fatalistisches Zukunftsbild unserer Zivilisation und der Welt zeichnet. Er zeigt Zeiten der Umbrüche in der Geschichte auf, ausgelöst durch Klimaänderungen und Krankheiten wie die Pest, die nur zu hilflosen, irrationalen Reaktionen einer Menschheit geführt haben, die glaubt, außerhalb der Natur zu stehen, „auf vergangene Erfolge zeigt, um gegenwärtiges Handeln zu rechtfertigen“ und „immer wieder dieselben, alten Geschichten erzählt“.

Blom fragt, ob auch die Aufklärung gescheitert ist, nach „Enlightenment“ „Endarkenment“ droht, wo Menschenrechte und Demokratie als Fiktion ausgehebelt werden. Zeiten des Umbruchs und der Ungewissheiten bräuchten neue Geschichten, die eine „weiter gedachte Aufklärung“ bringen könnten.

Wir sind mit Philipp Blom eins, dass streitbare zeitgemäße Formen der Demokratie entwickelt werden müssen, um auch ein Abgleiten in autoritäre oder gewalttätige Gesellschaften zu unterbinden. Durch „wissenschaftliche Modelle eines narrativen Weltzugangs“ neuen Schwung ins aufgeklärte Denken, neue Fantasien und Träume in eine „Neuinterpretation des Menschseins“ zu bringen. Aber nicht mit einer „Charta der Menschenpflichten“, wie einmal gefordert, sondern auf Grundlage der Menschenrechte in Abwägung mit entgegenstehenden Rechten anderer und öffentlichen Interessen, wie etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Zusammen mit dieser sehen wir die größten menschenrechtlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit bei folgenden Themen:

► Partizipation der Zivilgesellschaft: Schon lange sind Vertrauensverlust in die repräsentative Demokratie und Misstrauen gegenüber „politischen Eliten“ spürbar. Gleichzeitig steigt in der Bevölkerung das Interesse an aktuellen Themen, etwa der Klimapolitik. Wie Beispiele im In- und Ausland zeigen, kann die Einbindung durch Los bestimmter Bürger:innen in wissensbasierte, rationale demokratische Entscheidungsprozesse und Rechtsetzungsverfahren die Qualität und Akzeptanz politischer Entscheidungen erhöhen. Zivilgesellschaftlichen Organisationen sollte das Recht eingeräumt werden, vor Höchstgerichten Gesetze gleich nach Inkrafttreten direkt anzufechten, um deren Übereinstimmung mit den Menschenrechten überprüfen zu lassen. Dies könnte Gerichte und Behörden (auch budgetär) entlasten und für viele Betroffene einen rascheren Zugang zum Recht ermöglichen.

► Neugestaltung des Asyl- und Migrationssystems: Dem EU-Grenzregime im Mittelmeerraum, umgesetzt durch die Grenzschutzagentur Frontex und EU-Staaten, wird zurecht die Bezeichnung „Festung Europa“ zugeschrieben. Obgleich weitgehend erfolglos, soll das EU-Budget dafür bis 2027 auf über 30 Mrd. Euro steigen. Als Alternative wurde vorgeschlagen, Flüchtlingen in Mittelmeerländern Zukunftsperspektiven zu bieten. Von der EU (mit)finanzierte wirtschaftliche Kooperativen in Landwirtschaft, Solar- und Windenergie wären für die Staaten und deren Bevölkerung mit ökonomischen Vorteilen verbunden, womit eine „Win-Win-Win-Situation“ geschaffen wäre, bei der mit vorläufigen Aufenthaltsberechtigungen und der Überprüfung asylrechtlicher Ansprüche oder Erteilung von Arbeitsvisa in der EU menschenrechtliche Standards eingehalten werden könnten.

► Bekämpfung von Armut, Ausbeutung und sklavereiähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen: Vielfach nicht eingehaltene Versprechen von Konzernen, sich an arbeitsrechtliche und ökologische Standards zu halten, zeigen, dass es weltweit verbindliche Regeln braucht, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen – ein wichtiger Schritt wäre etwa ein EU-Lieferkettengesetz. Außerdem muss härter gegen Menschenhandel vorgegangen werden, der vor allem Frauen und Kinder in unmenschliche, lebensbedrohende Situationen bringt.

► Frauenrechte sind Menschenrechte: 1993 wurde dies erstmals bei der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien verkündet, zwei Jahre später rief die Beijing Aktionsplattform die Staatengemeinschaft zum konkreten Handeln auf. Wäre das überall geschehen, hätte zum Beispiel Gewalt gegen Frauen mehr eingedämmt werden können. Doch nein. So haben etwa heuer in Österreich Frauenmorde ein skandalöses Ausmaß erreicht, die Spitze des Eisbergs von Gewalt in unserer Gesellschaft. Verstärkte Maßnahmen gegen häusliche Gewalt, Frauenarmut, Antifeminismus und Diskriminierung müssen eine Forderung an Politik und Gesetzgebung werden.

► Drohende Klimakatastrophe: Sie ist die Bedrohung für das Überleben auf unserem Planeten, und damit eine elementare Menschenrechtsfrage, von der die ärmsten Regionen am stärksten betroffen sind. Verursacht wird die Klimakrise entscheidend von Verkehr und Industrie reicher Staaten. Es bedarf nicht nur einer Entschleunigung deren Lebensstils, eines Ausbaus der Solar- und Windenergie, der Aufforstung von Wäldern, einer Rettung der Meere vor Vermüllung, sondern auch, finanziell benachteiligte Staaten zu unterstützen, um sie gegen die Klimakatastrophe besser zu wappnen. Denn es gibt keinen anderen Planeten für ein menschenwürdiges Leben. So könnte auch die Einführung von Klimaklagen vor dem Europäischen Gerichtshof und UN-Organen ein nützliches Mittel sein.

► Einsatz digitaler Technologien: Künstliche Intelligenz und digitale Überwachung bedrohen die Menschheit in ungeahnten Ausmaßen: Internetgiganten dürfen es nicht in den Händen haben, Menschen zu digital gesteuerten Avataren und Opfern eines Raubtierkapitalismus (wie Zuckerbergs „Metaverse“) zu degradieren, und Staaten Menschen nicht zu rundum überwachten Spielzeugen staatlicher Macht entwürdigen (wie das Social Credit System in China). Und wer hat oder erhält die Kontrolle darüber, wie künstliche Intelligenz programmiert wird, um politisch oder ökonomisch gewünschte Ergebnisse zu produzieren? Mit zukunftsgewandter Fantasie und Energie gilt es zu verhindern, dass wir zu „digital gesteuerten Menschen“ werden.

Es ist keine Zeit zu verlieren.

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Maria Berger, Thomas Höhne, Ulrike Lunacek, Manfred Nowak, Hannes Tretter, Marion Wisinger.

Die Presse, 10.12.2021: Menschenrechte in Zeiten des Umbruchs